Man kann es sich heute kaum noch vorstellen: Bis in die 1960er-Jahre war der Berninapass im Winter geschlossen. Ab 1965 durften die Gemeinden Poschiavo und Brusio den Pass im Winter auf eigene Verantwortung offenlassen. Immerhin ist dieser die einzige Verbindung zwischen dem Oberengadin und dem Puschlav. Die Überquerung des Passes kostete damals aufgrund der aufwendigen Räumungsarbeiten stattliche fünf Franken.
Seit 2007 ist das Tiefbauamt Graubünden für den gesamten Strassenunterhalt des Berninapasses zuständig. Daher benötigte es dort oben auch einen Unterhaltsstützpunkt. Dieser sollte auf dem Scheitelpunkt des Passes auf 2328 Metern gleich neben dem Ospizio Bernina erstellt und sorgfältig in die geschützte Landschaft eingebettet werden. Die Gegend wurde von der UNESCO als Pufferzone für das Welterbe Rhätische Bahn festgelegt. Die Churer Architekten Bearth und Deplazes, die den Projektwettbewerb gewonnen hatten, pflegten Kontakte zum Fotografen Guido Baselgia. So kam die Idee auf, dem alles überragenden Streugutsilo des Stützpunktes eine Camera Obscura aufzusetzen.
«Kunst im Bau»
«Das Ganze ist im Grunde eine Art Kunst ‹im Bau› statt am Bau», sagt Marco Passini, der uns die Kamera zeigen wird. Zuerst aber müssen wir die Wendeltreppe des Silos hoch. 63 Stufen , die sich steil in die Höhe schrauben. Die Treppe dient in den Wintermonaten auch dem schneefreien Aufstieg der Mitarbeiter des Tiefbauamts, die das Salz- und Splittlager kontrollieren.
«Unter uns lagern in zwei getrennten Kammern je gut 200 m³ Salz und Splitt», erläutert Passini, «das Silo ist aus Ortsbeton. Die Lagerkammern sind jedoch innen mit einer hinterlüfteten Holzkonstruktion verkleidet. So kommt der Beton nicht mit dem aggressiven Salz in Kontakt und Kondenswasser kann abziehen.»
Im Raum angekommen, herrscht erst einmal undurchdringliche Dunkelheit. Licht fällt nur durch ein kreisrundes Loch von zwei Zentimetern Durchmesser knapp unter der Decke. Für eine Camera Obscura braucht es nur dieses eine Loch und einen vollkommen abgedunkelten Raum. Sonst nichts. «Im Winter sichere ich das Loch mit einem Korken. Er hat genau den richtigen Durchmesser», erläutert Passini nebenbei.
Bald werden die Wände des runden Raumes die arktisch anmutende Landschaft über der Waldgrenze mit ihren eindrücklichen Gipfeln abbilden. Passini kennt das schon: «Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich die Augen anpassen. Kinder sehen viel schneller etwas als Erwachsene – das fuchst Letztere oft ein wenig.»
Und tatsächlich, zuerst eher eine Ahnung, dann immer deutlicher erscheint die Landschaft, die das Gebäude umgibt. Sie materialisiert sich auf den vierzig Quadratmetern Wandfläche des runden, etwa dreieinhalb Meter hohen Raumes.
Berge wie Tropfsteine
Die Berge hängen von der Decke wie Tropfsteine mit schneebedeckten Spitzen. Über dem Fussboden spielen die Wolken. Auf der Kantonsstrasse sausen in unregelmässigen Abständen winzige bunte Matchboxautos vorbei. Der Verkehr ist heute eher ruhig.
Da das Loch nach Westen gerichtet ist, hat man einen erstaunlich klaren Blick auf die Landschaft um den Cambrenagletscher. Hier geht das Hochtal des Engadins ins Valposchiavo über. Und genau hier verläuft auch die Wasserscheide zwischen dem Adriatischen und dem Schwarzen Meer.
«Für mich ist dieser Raum etwas ganz Besonderes in einer Zeit, wo wir mit Bildern nur so überflutet werden. Er erlaubt uns, unsere Umgebung mit seltener Intensität wahrzunehmen und innezuhalten», sagt Passini. Genau diese Wirkung stellt sich sehr schnell ein. Das Spiel der Wolken, dort wieder ein Bus. Und über allem die majestätischen Gipfel in erstaunlicher Klarheit.
Die Besucherinnen und Besucher lässt das nicht unberührt. Passini hat schon alles Mögliche erlebt: «Manche fangen an zu singen, andere machen den Kopfstand, um die Berge richtig herumzusehen. Ich hatte schon eine Gruppe, die leise zu jodeln begann. Das war unglaublich stimmungsvoll.» Er komme immer wieder gerne hier hoch, denn kein Besuch sei wie der andere. Jeweils Mitte Oktober sei dann Schluss: «Um den zehnten Oktober herum kommt der Lichtstrahl kaum noch zum Loch. Die Sonne steht dann schon fast zu tief. Dann stecke ich den Korken ins Loch und komme im nächsten Juni zur Elf-Uhr-Führung wieder.»
«Manche fangen an zu singen. Andere machen Kopfstand, um die Berge richtig herum zu sehen. Ich hatte schon eine Gruppe, die leise zu jodeln begann. Das war unglaublich stimmungsvoll.»
Wie funktioniert eine Camera Obscura?
Objekte reflektieren das Licht, das auf sie fällt. Und das tun sie geradlinig in alle möglichen Richtungen gleichzeitig. Deshalb bekommt zum Beispiel ein Blatt Papier einen grünen Schimmer, wenn man es nah genug an einen belaubten Baum hält. Um aber nicht nur die Farbe, sondern ein erkennbares Bild aus den Reflexionen zu bekommen, müsste man diejenigen Lichtstrahlen auffangen, die in dieselbe Richtung scheinen. Genau das macht die Camera Obscura. Durch ihr kleines Loch fallen nur die Lichtstrahlen, die zum Entstehen des Bildes beitragen können. Diejenigen, die in andere Richtungen reflektieren, kommen dort gar nicht an. Das Bild wird um so schärfer, je kleiner das Loch ist. Gleichzeitig wird es lichtschwächer. Bei einer grösseren Öffnung würde zwar mehr Licht hindurch gelangen, dafür würde die Schärfe leiden.Je grösser der Abstand zwischen dem Loch und der Wand, desto grösser wird das Bild. Daher sind auf dem Berninapass übermannshohe Bilder möglich. Da sich die Strahlen beim Durchqueren des Loches kreuzen, steht das Bild seitenverkehrt auf dem Kopf. Dasselbe passiert auch, wenn die Lichtstrahlen auf die Linse in unserem Auge treffen. Nur ist unser Gehirn daran gewöhnt, und rechnet das Bild stets so um, dass es der Wirklichkeit entspricht.