Mehrgenerationen-Wohnen

Chalet, Einliegerwohnung und Tiny House für drei Generationen

Mehrgenerationen-Wohnen Separate Hauseingänge, gegenseitige Toleranz und ein Familienrat als schlichtendes Organ – das sind die Eckpfeiler für ein harmonisches Zusammenleben dreier Generationen auf einem Männedörfler Grundstück.

von Yvonne Lemmer

Redaktion, HEV Schweiz

Zu siebt sitzen sie um den grossen Tisch im Schatten hinter dem Haus. Es ist ein heisser Augustnachmittag, das Thermometer zeigt über 30 Grad an. Zwischen der Jüngsten der Familie, der 10-jährigen Lynn, und ihrem Grossvater Samuel liegen 75 Jahre Altersunterschied. Chili, ein rot-getigerter Kater, springt auf den Tisch, streckt die Beine von sich und lässt sich kraulen. Auch er gehört zur Familie Güttinger / Kimmenauer, deren Leben sich im Sommer grösstenteils draussen im Garten abspielt. Der Tisch hinter dem Haus ist ihr Treffpunkt. Hier essen sie unter der Woche gemeinsam zu Mittag. Zweimal die Woche, wenn Susanne im Kindergarten arbeitet, übernimmt ihre Mutter Nina das Kochen. «Nachdem ich für sieben gekocht habe, bin ich geschafft», sagt die 79-Jährige schmunzelnd und ergänzt sogleich, «aber auch sehr zufrieden.» Danach gönne sie sich einen Mittagsschlaf. Es sei manchmal schwierig, es beim Essen allen recht zu machen. Bei sieben Personen im Alter zwischen 10 und 85 Jahren erstaunt das nicht.

Eigene Eingänge

Auf dem Hanggrundstück an zentraler Lage in Männedorf hat jede der drei Parteien einen eigenen Hauseingang: Nina und Samuel bewohnen die 80 m2 grosse Einliegerwohnung, die sie 1997 eingebaut und früher extern vermietet hatten. Seit 2018 vermietet das Eigentümerpaar das Chalet an seine 46-jährige Tochter Susanne und deren Ehemann Thomas. Mit den beiden Kindern Jan und Lynn leben sie auf 180 m2 Wohnfläche, verteilt auf drei Stockwerke.

Geht man aussen am Chalet die steile Treppe durch den üppig bepflanzten Hanggarten hoch, erreicht man Stefans Tiny House. Stefan ist Susannes vier Jahre älterer Bruder. Die Geschwister sind hier aufgewachsen. Beide zog es als junge Erwachsene weg aus der Zürichsee-Gemeinde. Stefan lebte 10 Jahre im Zürcher Kreis 5, Susanne mit ihrem Mann Thomas eine Zeit lang in China, später als junge Familie im Zürcher Unterland. Wie kommt es, dass alle wieder in Männedorf und sogar auf dem gleichen Grundstück wohnen? «Wir waren eigentlich schon länger bereit, unser Chalet an die Kinder weiterzugeben und in die Einliegerwohnung zu ziehen», sagt der 85-jährige Samuel und blickt zu seiner Tochter Susanne hinüber. «Wir wollten den Schritt zurück nach Männedorf erst mit der Einschulung unseres Sohns Jan machen», sagt sie dazu. Das war 2018.

Fast zur gleichen Zeit wurde ihr Bruder Stefan vom Vermieter informiert, dass sein Mietshaus in Zürich renoviert und danach die Miete stark ansteigen würde. Deshalb habe er nach einer neuen Lösung gesucht. «Da ich im Elternhaus noch mein Musikstudio hatte und regelmässig dort war, konnte ich mir eine Rückkehr nach Männedorf vorstellen», sagt Stefan. Als ihn sein Vater Samuel mit der Idee eines Tiny House konfrontierte, war er sofort begeistert. Da das Projekt dem verdichteten Bauen entspricht, war auch die Gemeinde schnell davon überzeugt. Seit März 2018 ist das 40 m2-Tiny-House plus Dachterrasse das Zuhause von Stefan. Der Portfolio-Analyst wohnt nicht nur darin, er arbeitet auch meist von dort aus.

Familienrat als Bedingung

Auch sein Schwager Thomas arbeitet regelmässig im Homeoffice, das er sich unter dem Chaletdach eingerichtet hat. Der 48-jährige Umwelttechnik-Ingenieur kommt ursprünglich aus dem Elsass und spricht mit den beiden Kindern Französisch. Er ist der Einzige im Bunde, der nicht aus der Ursprungsfamilie Güttinger stammt. «Ich kenne das Mehrgenerationen-Wohnen aber aus meiner Kindheit. Meine Grosseltern lebten im gleichen Haus, was teils Konflikte mit sich brachte», sagt Thomas. Deshalb waren für ihn ein eigener Hauseingang sowie separate Haushalte Bedingung, damit er dem Mehrgenerationen-Wohnen zustimmte. «Ausserdem war es mir wichtig, dass wir regelmässig einen Familienrat abhalten, um aufkeimende Konflikte zu besprechen und gemeinsam Lösungen zu finden.» Einen Familienrat wünschte sich auch seine Frau Susanne. «Ich hatte anfänglich Angst, dass ich in die Rolle der Vermittlerin gedrängt würde und zwischen meinen Eltern, meinem Bruder und meiner eigenen Familie – Thomas und den Kindern – vermitteln muss.» Diese Rolle hätte sie nicht gern eingenommen.

Besonders in den ersten zwei, drei Monaten des Zusammenlebens mussten die Familienmitglieder vieles besprechen und sich aneinander gewöhnen. «Heute thematisieren wir im Familienrat nicht nur Probleme, sondern vor allem auch wichtige Investitionen», sagt Susanne und weist auf die 2022 eingebaute Wärmepumpe und die Photovoltaikanlage hin.

Wie die Kinder es erleben

Und was sagen die beiden Jüngsten, Jan und Lynn, zum Mehrgenerationen-Wohnen? «Ich finde es lässig, mit meinem Nani zu basteln», meint die 10-jährige Lynn. Am liebsten sei sie aber draussen am Fussballspielen. Im Sommer ist die ganze Familie im Garten oder am See anzutreffen. Im Winter sehen sie sich ein bisschen weniger, weil alle mehr Zeit drinnen verbringen. Dem 12-jährigen Jan gefällt es gut, dass er mit seinem Götti und den Grosseltern zusammenwohnt. «Meine anderen Grosseltern leben in Frankreich, deshalb sehe ich sie nicht so häufig», sagt er, der Samuel und Nina manchmal bei der Gartenarbeit hilft. Als ihn ein Schulfreund mal besuchen kam und sah, dass er in einem Chalet wohnt, sagte dieser zu ihm: «Aber ein Chalet ist doch ein Ferienhaus und kein Wohnhaus!» Für Jan passt es, im Chalet zu wohnen. Stören würde ihn einzig, dass sein Zimmer so verwinkelt und schwierig einzurichten sei. Er hätte gerne Platz für ein Sofa. Der 12-Jährige war es auch, der sich Hühner im Garten wünschte – nicht unbedingt zur Freude seines Grossvaters. «Mein schöner englischer Rasen ging für das Hühnerhaus drauf!», sagt Samuel lachend.

Keine ungefragten Ratschläge

Generell zeigt sich Eigentümer Samuel offen, wenn es um neue Vorschläge geht, und lässt mit sich reden. «Einzig beim Ratschläge-Geben halte ich mich zurück», sagt der 85-Jährige. Jedes Familienmitglied müsse seinen eigenen Weg gehen. Das sieht auch sein 50-jähriger Sohn Stefan so. «Ich sage meiner Schwester zum Beispiel auch nicht, wie sie ihre Kinder zu erziehen hat.» Man müsse eine hohe Toleranzgrenze haben, wenn man sich für diese Wohnform entscheide, meint er. Und ein gutes Verhältnis zu Eltern und Geschwistern sei Voraussetzung. «Wir lassen einander viel Freiraum. Ich fühle mich überhaupt nicht kontrolliert, weder von meiner Schwester und deren Mann noch von meinen Eltern. Meine Mutter kommt auch nicht jeden Tag zu mir ins Tiny House hoch», sagt Stefan.

Thomas als «Aussenstehender» schätzt, dass sein Schwiegervater Samuel so tolerant ist. Auch deshalb gestalte sich das Zusammenleben auf dem Grundstück einfach.

Die 79-jährige Nina sieht in der Gartenarbeit eine Herausforderung. «Samuel und ich haben immer noch das Regime über den Garten. Wir kümmern uns auch gerne drum. Aber manchmal merken die anderen nicht, wie viel Arbeit dahinter steckt», sagt sie und gibt zu, ein bisschen pedantisch zu sein.

Alle sieben Familienmitglieder sehen im Mehrgenerationen-Wohnen mehr Vor- als Nachteile. «Ich bin nie ganz allein», sagt Stefan. Und trotzdem habe er seine Privatsphäre. Seine Schwester Susanne ist dankbar für die Unterstützung: «sMami kocht, wenn ich schaffe.» Ausserdem trinken die beiden am Morgen häufig einen Kaffee zusammen und tauschen sich kurz aus. Ihre Mutter war früher ebenfalls Kindergärtnerin. «Sowieso helfen wir einander, wo es gerade nötig ist», sagt Susanne.

Ein weiterer Vorteil: Die Familie kann sich vieles teilen – so auch die Fahrzeuge. Sie haben einen Fahrzeug-Pool, bestehend aus kleinem Elektroauto und grösserem Diesler. Die beiden Autos stehen allen zur Verfügung. «Listen führen wir keine», sagt Stefan. Es laufe alles sehr unkompliziert.

Loslassen ist ein Thema

«Dass wir nun alle auf demselben Grundstück wohnen, ist für mich etwas unglaublich Schönes», sagt Eigentümer Samuel. Direkt am Leben seiner Grosskinder teilzunehmen und zu sehen, was sie gerade in der Schule lernen, sei für ihn, der 12 Jahre lang Schulpräsident von Männedorf war, eine Bereicherung. «In meinem Alter ist es nun aber wichtig, loszulassen», meint er gleichzeitig. Im Moment sei er aber immer noch erste Anlaufstelle, wenn auf dem Grundstück etwas nicht funktioniere.

Auch für seine Frau Nina ist Loslassen ein Thema. «Für viele Jahre war es das Haus von Samuel und mir, jetzt vermischt es sich, und ich kann nicht mehr über alles selbst bestimmen», sagt sie, die innerhalb der Familie eine dominante Rolle einnimmt. Wenn es im und ums Chalet unordentlich aussieht, sei ihr das heute egal. «Früher dachte ich noch, was für ein Puff!»

Nina ist die inoffizielle Chefin auf dem Grundstück, die viele Ideen hat und diese ins Familienleben einbringt. So sagt sie auch selbst vor allen Familienmitgliedern, dass sie hier ein bisschen der Chef sei. «Oder du häsch eifach sGfühl, du segsch de Chef, Nani!», entgegnet ihr schlagfertiger Enkel Jan und bringt mit seinem Kommentar alle zum Lachen.

«Aber ein Chalet ist doch ein Ferienhaus und kein Wohnhaus!»

Altes Chalet auf neuestem Stand

Das Chalet Friedau wurde 1923 von einer Holzbaufirma in Fideris GR als Fertighaus (gestricktes Holzchalet) gebaut und mit der Bahn nach Männedorf transportiert. Samuel Güttingers Eltern liessen das Chalet auf ihrem Grundstück in den Weiern in Männedorf erstellen. Der ehemalige Maschineningenieur Samuel ist in diesem Chalet aufgewachsen. 1976 kauften er und seine Frau Nina das Chalet seinem Bruder ab und bauten es noch im selben Jahr um. 1997 wurden eine 3 1/2-Zimmer-Einliegerwohnung im Untergeschoss sowie ein Musikstudio eingebaut. 2018 entstand auf dem Grundstück ein Tiny House.

 

Das 1923 erbaute Chalet ist alles andere als altmodisch. Ein paar Fakten:

  • Photovoltaikanlage (19 Peak, grosse Leistung für ein so kleines Dach)
  • Zwei Batteriespeicher für die Speicherung des Solarstroms
  • 2022 wurde die 20-jährige Gasheizung durch eine Wärmepumpe ersetzt
  • Regenwassertank für den Garten
  • Solarthermie auf dem Garagenvordach fürs Warmwasser

«Ein Familienrat war für mich Voraussetzung.»

Thomas

Dossier Wohnen heute & morgen

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Wohnen heute & morgen. Lesen Sie im Dossier weitere spannende Reportagen über aussergewöhnliche Wohnformen und neue Formen des Zusammenlebens für Jung und Alt. Wir zeigen auf, wie es sich ein bisschen anders als üblich wohnen lässt – heute oder morgen. 

«Oder du häsch eifach sGfühl, du segsch de Chef, Nani!»

Jan